Wie mag das sein, wenn du erfährst, dass es eine Schwester gab, bevor du geboren wurdest? Genau darüber schreibt Annie Ernaux in ihrem berührenden Buch.
In ihrer Familie wird die tote Schwester Ginette, die im Alter von sechs Jahren starb, nie erwähnt. Nur einmal als kleines Mädchen hört Annie die Mutter über ihre Schwester reden, in einem Gespräch mit der Nachbarin. Annie traut sich nicht zu fragen. Sie stößt auf eine Mauer des Schweigens.
Erst als erwachsene Frau spürt sie der Schwester nach. Die Eltern litten sehr unter ihrem Tod, was Annie als kleines Mädchen unbewusst wahrgenommen hat.
Ihre Eltern waren sich aus ökonomischen Gründen einig, dass sie nur ein Kind wollten. Annie kommt zu dem Schluss, dass sie nur geboren wurde, weil Ginette gestorben ist. Eine präzise aber auch schmerzliche Erkenntnis.
Sie findet ein paar Fotos und versucht sich in die Schwester hereinzudenken. Wahrscheinlich war sie sehr fromm und bestimmt viel braver als sie, ein kleiner Engel.
Das Buch ist in Form eines Briefes an die tote Ginette geschrieben. Der Text ist sachlich, kühl gehalten und trotzdem sehr mitreißend. Ernaux Sprache ist schnörkelos und klar. Ich bin sehr beeindruckt.
Ich habe mir das Buch von Maren Kroymann vorlesen lassen, die nicht umsonst für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert ist.
Die Autorin:
Annie Ernaux wurde 1940 in der Normandie geboren. Aus einfachen Verhältnissen stammend wurde sie Lehrerin. 2022 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen.
- Der Audio Verlag
- ISBN 9783742428462
- 14,40 €
- Suhrkamp Verlag
- 73 Seiten
- ISBN 9783518473573
- 11 €